Bilder von Schutzengeln, Bergen, Sport und Meer im Dienste der Erziehung.
Eine leicht veränderte Version eines Textes, der in der Festschrift für Kunibert Bering 2012 erschienen ist. Stefan Hölscher, Rolf Niehoff, Karina Pauls (Hgg.) BildGeschichte - Facetten der Bildkompetenz, Oberhausen 2012: Athena-Verlag. S. 169-181
Vorbemerkung
Bildkompetenz zu entwickeln, gilt allgemein als Aufgabe der Kunstpädagogik. Begründet wird sie mit der Bedeutung der Bilder bei der Weltkonstruktion und in der Kommunikation. Die Bildbeispiele in den einschlägigen Texten stammen mehr oder weniger alle aus der Sphäre der Kunst. Das Problem dabei ist, dass Kunst schichtspezifisch und staatlich gelenkte und finanzierte Hochkultur ist. So befassen sich die Lehrer und Schüler kaum mit den Bildern, die persönlich und in der Massenkommunikation (Werbung, Nachrichten, Unterhaltung) verwendet werden. Kunst als zugeschriebene Eigenschaft passt nur auf wenige Bilder. Ich meine, wer Bildkompetenz an der Kunst entwickeln will, hat immer mit dem Problem zu rechnen, dass die zugeschriebene Eigenschaft Kunst die Bildpragmatik in den Schatten stellt; dass also mehr über die Besonderheit des Bildes als Kunstwerk nachgedacht wird, als über die Normalität, über den Bildalltag (Billmayer, 2009). Das zeigt sich etwa an den veröffentlichten Unterrichtsbeispielen oder in den von Kunst und Unterricht aufgegriffenen Themen. Auch Kunstpädagogen, die sich für Alltag und Jugendkultur interessieren, sehen mit ihrem Kunstblick vor allem das Besondere und Ausgefallene.
Es gibt heute viele Bilder. Ein Unterricht, der sich am Bildalltag orientieren will, findet mehr als genug Beispiele. Schwieriger wird es, wenn daneben die historische Seite alltäglicher Bilder behandelt werden soll. Da findet man wenig. Die Kunstgeschichte hat sich bisher ausgehend von der Idee des Meisterwerks und des genialen Künstlers fast ausschließlich mit repräsentativen oder ausgefallenen Bildern befasst. Andere Bilder sind weder umfangreich gesammelt noch untersucht worden. So ist die Geschichte der Bilder immer vor allem eine Geschichte der Kunst, also von Bildern, die Mächtige und Reiche in Auftrag gegeben und gesammelt haben. Es gibt etwas in volkskundlichen Sammlungen und hier und da findet man was in (Wallfahrts)kirchen. Aber insgesamt haben wir noch viel nachzuholen.
Dieser Text versucht anhand von Bildern, die zur Erziehung und zur Motivation eingesetzt wurden und werden, eine historische Perspektive und daraus Ideen für den Unterricht zur Geschichte der Bilder zu gewinnen.
Schutzengel
„Da habt ihr aber einen Schutzengel gehabt.“ Das hat meine Tante Annie oft gesagt, wenn wir als Kinder trotz mangelnder Vorsicht einer Gefahr entgangen waren. Der Schutzengel hing als Bild über meinem Bett. Vor ihm wurde das Nachtgebet gesprochen. Dabei wurde wir immer wieder ermahnt, bei unseren Unternehmungen vorsichtig zu sein, um Unfälle zu vermeiden. Auf einem Dorf in der ersten Hälfte der 1960er Jahre war das überlebenswichtig: der Bach, die Heuböden und die Maschinen auf den Bauernhöfen, der Verkehr, brüchige Äste, hohe Bäume.
Die Problemlage für die Eltern war damals in etwa so: Es war üblich, dass Kinder – zumal Buben – schon im Grundschulalter den Nachmittag unbeaufsichtigt im Dorf und seiner Umgebung verbrachten. Kaum jemand sperrte seine Kinder zu Hause ein und niemand hatte Zeit, sie dauernd zu beaufsichtigen. So war der Schutzengel Teil der notwendigen Strategie, Kinder zu einem vorsichtigen Verhalten zu veranlassen. Die Erwachsenen haben folgendermaßen argumentiert: „wenn ihr unvorsichtig seid, dann passiert etwas schlimmes“. Dass hier erzogen wurde, erkannten wir damals schon am Tonfall (vgl. Luhmann 2002:53ff).
Unser Schutzengelbild war der Klassiker: zwei Kinder und die Brücke ohne Geländer über dem rauschenden Bach. Wir haben gelernt, dass die Situation symbolisch für alle möglichen Gefahren steht. Diese führten uns die Erwachsenen meist recht drastisch vor Augen. Mit dem Schutzengel konnte man auch erklären, wenn uns trotz falschen Verhaltens nichts passiert war. Die Argumentation war damit weiter gültig. Wenn die Konsequenz hier und da ausblieb, dann war das eben den überirdischen Kräften des Schutzengels zu verdanken.
Neben der erzieherischen Funktion war das Bild vor allem auch ein schönes Bild, das unser Zimmer schmückte. Und Besucher sahen sofort, in diesem Haus werden die Kinder traditionell christlich erzogen.
Erziehung zielt auf Verhalten(sänderungen) in der Zukunft. Es wird immer mit Vorstellungen argumentiert: Unser (mögliches) Verhalten liegt ebenso wie die (möglichen) Konsequenzen in der Zukunft. Bilder können bei dieser Imagination helfen. Damit diese entsteht braucht es Texte. Wer mit Bildern erziehen also kommunizieren will, muss etwas dazu sagen.
So wurden und werden Bilder in der Kirche bei Predigten eingesetzt. Man kann sich vorstellen, wie Prediger vor sündigem Lebenswandel warnten und dessen Folgen mit der drastischen Darstellungen von Rubens‘ Höllensturz der Verdammten bis in die Details schilderten. Die Argumentation verläuft nach dem Wenn-Dann-Schema. Das Bild zeigt die Konsequenzen, das „dann“. Die (sündigen) Taten, das „wenn“, mussten die Prediger in den Vorstellungen ihrer Zuhörer als Bilder hervorrufen. Die Konsequenzen (das „dann“) waren so zu sagen einheitlich, die Bedingungen (das „wenn“) jeweils abhängig vom individuellen Verhalten der Gläubigen.
Das gute und das schlechte Gebet
Der (oft) kolorierte Holzschnitt „Das gute und das schlechte Gebet“ aus dem 2. Drittel des 15. Jahrhunderts zeigt in der Mitte des linken Teils den gekreuzigten Jesus, rechts und links vom Kreuz zwei kniende Männer. Der linke (zur Rechten des Gekreuzigten) ist einfach gekleidet und hat einen Rosenkranz in den Händen. Aus seinem Mund gehen Linien zu den Wundmalen. Der rechte Mann ist reich gekleidet, er kniet zur Linken des Gekreuzigten. Von seinem Hinterkopf gehen Linien zu sechs abgegrenzten Bildern, auf denen hinter ihm verschiedene Facetten irdischen Reichtums dargestellt sind. Das gute Gebet ist ganz bei Gott, das schlechte kreist um irdischen Wohlstand. Die Konsequenzen aus diesen unterschiedlichen Verhaltensweisen zeigen Engel und Teufel, die jeweils über den Köpfen der Beter auf deren Seelen warten, um sie in die jeweilige Ewigkeit der Erlösung oder Verdammung zu holen. Wir haben hier also das Wenn-Dann-Schema auf einem einzigen Blatt: Das Verhalten und die Konsequenzen, die mit Engel und Teufel nur angedeutet sind – der Betrachter assoziiert dazu vermutlich Darstellungen vom Jüngsten Gericht.
Der Holzschnitt „Die Wege zum ewigen Leben oder zum ewigen Verderben“ wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Harrisburg, Pennsylvania, gedruckt. Er zeigt, dass sich diese Art der Darstellung und der Argumentation die ganze Neuzeit über gehalten hat. Seit dem Barock wurden derartige polare Darstellungen auf zwei separaten Bilder, so genannte Pendants, aufgeteilt. Diese Mode bot den Bildverlegern die Möglichkeit, zwei statt ein Bild zu verkaufen (Pieske 1988:53).
Anders argumentiert das „Mahnblatt für die Jugend“ aus der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es zeigt in zwölf Bildern, wohin schlechter Lebenswandel führt: Man endet als Bettler. Die zwölf Bettler erzählen in einfachen vierzeiligen Versen, was sie an den Bettelstab gebracht hat: Ungehorsam, Spielsucht, Hurerei, Alchemie, Faulheit &c. Die Bilder lasse sich als Embleme verstehen.
Ein anderer Bilderbogen aus dem Jahr 1619 bietet unter dem Titel „Ein köstlich bewerte Präservativa wieder die Armut zu gebrauchen nutzlich“ zwölf Regeln, um die Armut zu vermeiden (Bilderbogenkupferstich 1619). Hier wird etwa davor gewarnt, Handel zu treiben, ohne Bescheid zu wissen, oder jähzornig zu sein oder für andere Bürgschaften zu leisten. Auch hier wird ein Teil der erzieherischen Argumentation entweder das „wenn“ oder das „dann“ im Bild dargestellt, das Pendant ist jeweils ein Text.
Bilder als Erziehungsmittel
Wer Poster kauft und aufhängt, verfolgt Zwecke. Es sollen damit Probleme gelöst werden. Wenn wir die Poster als Erziehungsmittel verstehen, dann lässt sich von ihnen auf Probleme schließen, die bei der Arbeit oder beim Studium auftreten können. Zunächst ist uns aufgefallen, dass die Interpretation auf Umwegen funktioniert. Der Bezug zwischen dem, wozu die Poster auffordern, und dem, was vom Publikum erwartet wird, ist eher indirekt. Das Publikum könnte eine direkte Ansprache als aufdringlich oder pädagogisch verstehen, oder vielleicht auch als Unterstellung, es hätte grundsätzlich die „falsche“ Einstellung zur Arbeit. Vom Wenn-Dann-Schema wird weder das Wenn noch das Dann deutlich angesprochen. Es gibt z.B. keine Bilder mit Zeugnis- oder Ordensverleihung, man sieht auch keine Bankauszüge oder luxuriöse Autos, Wohnungen oder andere Statussymbolen, die einem als Belohnung winken. Und es wird gar nicht gezeigt, was passiert, wenn man sich falsch verhält.
Bei gemeinsamer körperlicher Arbeit, etwa am Bau oder am Fließband überwachen sich die Arbeitenden gegenseitig oder der Arbeitsprozess gibt den persönlichen Arbeitseinsatz vor. Industriekaufmann, Schüler, Sachbearbeiter oder Manager arbeiten mit dem Kopf – man sieht die Arbeit meist nicht. Hier muss stärker intrinsisch motiviert werden. Die Bilder aktivieren als Prosa- ober Poesiebilder das Denken, und sollen so vielleicht die innere Einstellung entsprechend provozieren.
Der Sport ist das Symbol für dieses intrinsische Moment, da er ja an sich um seiner selbst willen betrieben wird. Wer Einzelsport betreibt, weiß, was es heißt, trotz schmerzender Muskeln und Atemnot weiter zu machen. Wegen der intrinsischen Motivation werden wohl auch keine Reichtümer als Belohnungen oder Katastrophen als Strafen gezeigt: das würde dem intrinsischen Antrieb widersprechen.
Bei den bisher betrachteten Bildern ist die erzieherische Absicht mehr oder weniger deutlich, daneben gibt es viele Bilder, denen man sie nicht so deutlich ansieht: das Monatsblatt März ist mit „Ostersonntag“ betitelt. Im Vordergrund sehen wir eine Mutter mit einem Mädchen und einem Buben, sie kommen offensichtlich aus der Kirche. Das Mädchen legt gerade einem bettelnden Kind etwas in den aufgehaltenen Hut. So konnte mit diesem Bild zum Geben von Almosen gemahnt werden. Bei der Durchsicht populärer Wandbilddrucke findet man viele Situationen, mit denen solche Ermahnungen verknüpft werden konnten.
Grundsätzlich können wir feststellen, dass Mahnbilder immer mit Sprache verwendet werden. Die Argumentationsfigur verläuft nach dem Wenn-Dann-Schema. Bilder werden dabei meist nur in einem Bereich dieser Folgebeziehung verwendet. Einmal wird das Verhalten im Bild dargestellt, und die Konsequenzen muss man sich vorstellen, das andere Mal werden die Konsequenzen gezeigt, und das vorausgehende Verhalten muss vorgestellt werden. So lassen sich die allgemeinen Bilder jeweils an die besonderen Gegebenheiten anpassen. Die Erziehung wird durch die Kombination bildliche Repräsentation einerseits und Imagination andererseits individualisiert.
Berge, Sport und Meer
Die Werbung verwendet gerne Bilder für eine Wenn-Dann-Argumentation. Wie die Erziehung verfolgt sie (möglichst) dauerhafte Verhaltensänderungen. Die Kunden sollen Lebensstile entwickeln und beibehalten und jeweils die dafür notwendigen Produkte (Marken) erwerben oder bestimmte Verhaltensweisen annehmen (Aids-Kampagnen, Verhalten im Straßenverkehr). Vor allem soziale Werbung (social advertising) bedient sich der Verfahren, die wir aus der Geschichte kennen gelernt haben. Aids-Kampagnen etwa zeigen richtiges und falsches Verhalten: Kondombenutzung oder die Spuren von hemmungslosem Sex. Die Folgen müssen imaginiert werden.
Werbung ist kostenlos und drängt sich auf. Die „erzieherischen“ Motivationsposter werden gekauft. Angeboten werden sie von den Nachfolgern der Bildverleger, den Postershops im Internet. Die folgende Untersuchung beruht auf den Postern, die im Juli 2011 auf www.allposters.de unter der Rubrik Motivation zu finden waren. Dabei habe ich nur Bilder mit breitem schwarzen Rand/Rahmen, einem groß gedrucktem Titel plus einem Zitat bzw. einer Erläuterung des Begriffs/Titels und des Bildes genommen. Diese Optik ist für das Genre typisch. Was sich an Demotivationsposter zeigt.
Insgesamt habe ich über 250 verschiedene Poster gefunden. (allposters gibt es nicht mehr. Derzeit ist mit dem Suchbegriff Motivationsposter https://www.germanposters.de zu finden.)
Das Erscheinungsbild ist immer wie beschrieben. Die Kombination von Bild und Text steht in der Tradition europäischer Druckgraphik. Unter dem Bild steht in Großbuchstaben ein Wort, das Thema bzw. der Titel des Posters. Der Titel (Lemma) steht räumlich und semantisch zwischen dem erklärenden Text (Epigramm) und Bildmotiv (Icon). Es gibt vor, wie Bild und Text zu interpretieren sind.
Challenge, Success, Courage, Goals, Teamwork, Determination, Leadership, Excellence, Vision, Achievement, Perseverance und Risk sind die häufigsten Begriffe/Themen. In den kurzen Texten unter dem Thema werden Aufforderungen wie „Explore and experience the adventures of life“ oder Lebensweisheiten „The key to happiness is freedom, and the key to freedom is courage“ oder Regeln „Quality is in the detail“ formuliert. Sie sagen, wie man erfolgreich wird. Im Gegensatz zu den historischen Beispielen wird hier weder das „Wenn“ und schon gar nicht das „Dann“ konkret im Bild dargestellt.
Verstehen
Bilder brauchen in der Kommunikation einen Text oder Kontext, der angibt, worüber sie sind. Wenn wir Bilder verstehen wollen, versuchen wir (Kon)Text und Bild in einen passenden Zusammenhang zu bringen. Die Kombination von Text und Bild signalisiert uns, dass es sich hier um eine Aussage handelt und dass es was zu verstehen gibt.
In der Text-Bild-Kommunikation ergänzen sich Bild und Text. Grundsätzlich kann Harmonie oder Disharmonie herrschen (Bergström 2001: 115ff). Einmal ergänzen sich Bild und Text, sie informieren über Fakten oder erklären etwas. Wir kennen das aus Schul- und Kochbüchern, aus Zeitungen und Zeitschriften. Wir verstehen den Sinn ohne Probleme und übersehen, dass hier eine Interpretation notwendig war. Manchmal finden wir diese Form der Text-Bild-Bestätigung langweilig, z.B. in der Werbung (Renner 2007: 412ff). Widersprüche zwischen Bild und Text können Aufmerksamkeit generieren.
Die Motivationsposter signalisieren in der Text-Bild-Kombination: hier gibt es etwas zu verstehen. Der schwarze Rand als gedrucktes Passepartout verweist auf „Kunst“ und signalisiert damit: die Botschaft ist nicht trivial.
Prosa und Poesie
Bergström unterscheidet zwischen Sach-, Prosa- und Poesiebildern (2001:94ff). Also Bildern, die Tatsachen darstellen, Geschichten erzählen oder eher „schwer zugängliches“ berichten. Bei den Motivationspostern gibt es nur Prosa- und Poesiebilder.
Fallschirmspringer und Läufer
Das Bild auf Success ist ein Beispiel für Bilder, die zeigen, wie Fallschirmspringer sich im freien Fall an den Händen halten. Nach meinen Umfragen gehört dieses oder ein ähnliches Bild zum Bildgedächtnis von vielen Zeitgenossen. Bild und Text passen hier relativ gut zusammen:
SUCCES.
Coming together is a beginning; keeping together is progress; working together is success.
Der Text benennt Voraussetzungen für Erfolg. Diese allgemeinen Voraussetzungen lassen sich zumindest bis zum Zustandekommen des „Kreises“ nachvollziehen. [ABER: Aber wenn sie überleben wollen, dann müssen sie gleich wieder los lassen und jeder für sich die Reißleine ziehen.]
Ebenso ist es mit dem anderen Beispiel.
CHALLENGE. There is one quality one must possess to win, and that is clarity of purpose. This is the knowledge of what one wants, and a burning desire to achieve it.
Dieser Text beschreibt, wie man eine Herausforderung meistert. Der Läufer stellt sich der Herausforderung. Er läuft auf einer natürlichen Brücke, sein Weg führt nach oben. Zum Erfolg? In beiden Fällen haben wir es mit Prosabildern zu tun, mit Bildern, die eine Geschichte „erzählen“. Das bedeutet, wir „sehen“ in gewisser Weise die Vergangenheit, was war vor dem Bildzeitpunkt, wie ist es zu der hier gezeigten Situation gekommen, und wir „sehen“ auch die Zukunft. Wir stellen uns vor, wie es weitergehen wird. Die erzieherische Wirkung liegt wohl einerseits in dieser Geschichte, andererseits im Identifikationsangebot mit den agierenden Menschen.
Wasserfall und Leuchtturm
FULLFILMENT und POSSIBILITIES (Abb.8) stellen keine Fakten dar und erzählen keine Geschichten, sie passen offensichtlich in die Kategorie „Poesiebilder“. Und ähnlich wie bei Poesie bleibt die Interpretation recht offen.
FULLFILMENT.
The final and most essential element of success is good relationships. Everything else flows from it and is nourished by it. Without its cooling water we may find success but never fulfillment.
Ein Wasserfall über grün bemoosten Felsen. Was hat das mit Erfüllung zu tun? Wir hier ein etymologischer Pfad zum Verständnis aufgezeigt? Zum „Füllen“. Im Text ist von Wasser und Fließen die Rede. Oder geht es vor allem um die Beziehungen, die einem helfen, Erfolg zu haben? Und die einzelnen Wasserläufe stehen für ein Geflecht, quasi so etwas wie die Äste eines Baumes?
POSSIBILITIES. The only way to discover the limits of the possible is to go beyond them into the impossible.
Ähnlich wie beim Wasserfall lassen sich hier Bildmotiv, Thema und Text nicht sofort und einfach unter einen gemeinsamen Begriff bringen. Ist der Leuchtturm die Grenze, oder ist das Meer so stürmisch, dass man hinter die eigenen Grenzen gehen muss, um durchzukommen? Was bedeutet der Lichtstrahl? Zeigt der Leuchtturm die Richtung auf, in der die Möglichkeit liegen oder die Grenzen der Seefahrt? Oder steht der Leuchtturm für Weg und Reise?
Die Lücke zwischen Text, Bild und Thema lässt sich nicht einfach schließen. So kann das Bild wie ein Andachtsbild immer wieder neu betrachtet und Anlass zu neuen Meditationen werden.
Wenn – Dann
In den historischen Beispielen haben wir recht deutlich das Wenn-Dann-Schema gefunden. Bei den Motivationspostern ist das Schema weniger deutlich, manchmal fehlt es ganz. Auch hier werden Voraussetzungen (Determination, Commitment, Courage), Situationen (Challenge, Possibilities) und Konsequenzen oder besser Ziele (Success, Goals) genannt. Einige Begriffe wie Leadership können sogar sowohl als Ziele wie als Voraussetzungen verstanden werden.
Allerdings ist der Zusammenhang zwischen dem Poster und der Situation, für die sie gedacht sind (Büro, Arbeitszimmer o.Ä.), nicht konkret gegeben. Die Poster mit den Fallschirmspringern und dem Läufer sind nicht für jeweilige Sportler gedacht, das Bild mit dem Leuchtturm wendet sich nicht an Seefahrer und der Wasserfall nicht an Bergwanderer. Das Wenn-Dann-Schema müssen die Nutzer der Bilder schon verinnerlicht haben, sonst können sie die Bilder überhaupt nicht als Motivationsposter verstehen. Ganz im Sinne des positiven Denkens werden negative Konsequenzen nicht genannt, diese müssen sich die Adressaten selbst ausmalen. Die Bilder erinnern ihre Betrachter an Vorsätze und Einstellungen, die sie mal gefasst haben: Selbstermahnungsbilder.
Offensichtlich können und wollen heutige Bildnutzer kompliziertere Interpretationsmethoden anwenden als die Leute früher. Im Laufe der Zunahme verbo-visueller Kommunikation hat demnach auch die Intelligenz der Nutzer zugenommen (Johnson 2006 hat Ähnliches überzeugend für die Entwicklung von Computerspielen und TV-Serien zeigen können). Die anspruchsvolle und offene Interpretation erzeugt Aufmerksamkeit und aktiviert das Denken. Der offene Sinn ermöglicht die Individualisierung der Bilder.
Tendenzen
In der Kunstpädagogik ist es üblich, einzelne Kunstwerke als solche oder im Vergleich mit anderen zu betrachten. Heute treten Bilder in großer Zahl auf, deshalb sollten wir auch im Unterricht quantitative Methoden verwenden. In der Kommunikationswissenschaft gibt es unter dem Stichwort „quantitative Inhaltsanalyse“ verschiedene Beispiele (Lobinger 2012). Hier einige Beispiele, was quantitative Untersuchungen leisten können.
Schöne Bilder
Die Motivationsposter unterliegen seit Jahrzehnten einem harten Auswahlprozess. Nur Poster, die sich verkaufen lassen, bleiben im Sortiment. Wir können also davon ausgehen, dass es sich für viele um schöne Bilder handelt. Die Schönheit liegt im Auge des Konsumenten.
Michael J. Parsons unterscheidet in seiner Untersuchung „How We Understand Art“ fünf Entwicklungsstufen im Verständnis von Kunst. Die zweite Stufe überschreibt er mit „Schönheit und Realismus“. Diese Stufe erreichen mehr oder weniger alle mit etwa 8–10 Jahren. Bilder gefallen, wenn der Gegenstand schön und die Darstellungsweise realistisch ist. Die untersuchten Beispiele entsprechen dieser Stufe: schöne Landschaften, schöne Sportarten und naturgetreue Fotografien.
Farben
Bei einem schnellen Blick über die Bildersammlung zeigt sich, dass die meisten Motive einen dominierenden Farbeindruck hinterlassen. Blau (Himmel, Meer) und Orange (Sonnenuntergänge) dominieren. Bei einer genaueren Analyse hat sich gezeigt, dass etwa 40% blau, etwa 20% orange und etwa 10% insgesamt grün wirkten. Eva Heller hat für ihre Untersuchung zur Farbe 2000 Personen in Deutschland befragt, dabei ist die Farbe Blau deutlich mit 45% die beliebteste Farbe gefolgt von Grün mit 15% (Heller 2000:5).
Motive
Bei fast der Hälfte der Motive (44%) sind Menschen meist als Sportler abgebildet; knapp ein Viertel (23%) zeigen menschenleere Landschaften; Tiere spielen in einem Zehntel der Motive die zentrale Rolle. Bei den Menschendarstellungen fällt zunächst auf, dass nirgends deutlich Männer und Frauen gemeinsam erkannt werden können. Gut zwei Drittel der Bilder zeigen eindeutig einen oder mehrere Männer, 13% zeigen eindeutige eine oder mehrere Frauen. Bei knapp 20% lässt sich das Geschlecht nicht eindeutig feststellen. Knapp 8% der Bilder zeigen Architektur, mit zwei Ausnahmen sind dies Leuchttürme und Brücken.
Wenn man sich das Verhältnis von Natur- und Kulturraum näher anschaut, so macht die Natur über zwei Drittel (68%) aus, etwa 20% der Bidler zeigen eindeutig kulturelle Räume meist Sportplätze, bei 10% lässt sich die Frage nicht entscheiden. Auf über 80% der Poster sind Landschaften abgebildet, davon machen Gebirge und Meer zu etwa gleichen Anteilen insgesamt die Hälfte aus, der Rest verteilt sich auf andere Gewässer, Himmel, Wald und Wüsten. Mehr als ein Zehntel der Landschaften sind Golfplätze.
Offensichtlich haben wir bei den Motiven und bei den Landschaften ein Muster vor uns, das wir aus dem Tourismus kennen. Es fehlen auf so gut wie allen Bildern Zeichen der (technischen) Zivilisation: es gibt keine Elektrizitätsleitungen, keine Neubauten, keine Autobahnen. „Die technisch geprägte Gegenwart findet keinen Platz“ (Hennig 1997: 41). Architektur beschränkt sich auf einsam stehende Häuser, Brücken und Leuchttürme. Fahrzeuge kommen nur vor, wenn sie etwa im militärischen Zusammenhang (etliche Poster zeigen US-Militär) oder beim Automobilsport explizit thematisiert werden. Eindeutig stammen die Motive also aus der Sphäre der Freizeit. Mit Ausnahme von Militär und Feuerwehr werden keine Arbeitswelten gezeigt. Es gibt auch keine Stillleben oder Ähnliches.
Knapp 50% der Poster stammen aus der Sphäre des Sports: Bergsteiger, Fallschirmspringer, Fußballspieler, Ruderer, Segler, Eiskletterer, Läufer, Skifahrer … meist leere Golfplätze. Etwa drei Viertel sind Einzelsportarten – dabei wurden Fallschirmspringen und Klettern als Einzelsportarten gewertet, auch wenn damit manchmal Teamwork angemahnt wird.
Zweck
Die Schlüsse, die sich aus der Analyse der Motivationsposter ziehen lassen, sind abhängig von der Antwort auf die Frage, wer die Poster warum wo aufhängt.
Zum Ort: ich gehe davon aus, dass die Poster ihrer Bezeichnung gemäß an Orten aufgehängt werden, an denen gearbeitet, gelernt, studiert, trainiert und ähnliches getan wird: Büros, Geschäfte, Schulen, Arbeitszimmer, Sportzentren, Praxen, Kinder- und Jugendzimmer … Die Ästhetik der Poster (Rahmen, romantische und schöne Motive) spricht dafür, dass die Bilder nicht für Produktionsstätten gedacht sind. Diese sind in aller Regel von rationeller Nüchternheit. Private Zimmer, Büros und Verkaufsräume werden dem gegenüber eher „schön“ eingerichtet.
Wer hängt die Bilder auf und wer ist das (angesprochene Publikum)? Es können der Chef, der Trainer, die Lehrer oder die Eltern sein. In diesem Fall wären sie die Sender und das Publikum die Angestellten, Schüler oder Kinder. Das Ziel wäre, diese zur Arbeit zu motivieren. Denkbar ist aber auch, dass die Poster mit dem Ziel der Selbstdisziplinierung oder Selbsterziehung eingesetzt werden. Der zu motivierende hängt das Poster auf, um sich an seine eigenen Vorsätze zu erinnern.
Bilder als Erziehungsmittel
Wer Poster kauft und aufhängt, verfolgt Zwecke. Es sollen damit Probleme gelöst werden. Wenn wir die Poster als Erziehungsmittel verstehen, dann lässt sich von ihnen auf Probleme schließen, die bei der Arbeit oder beim Studium auftreten können. Zunächst ist aufgefallen, dass die Interpretation auf Umwegen funktioniert. Der Bezug zwischen dem, wozu die Poster auffordern, und dem, was vom Publikum erwartet wird, ist eher indirekt. Das Publikum könnte eine direkte Ansprache als aufdringlich oder pädagogisch verstehen, oder vielleicht auch als Unterstellung, es hätte grundsätzlich die „falsche“ Einstellung zur Arbeit. Vom Wenn-Dann-Schema wird weder das Wenn noch das Dann deutlich angesprochen. Es gibt z.B. keine Bilder mit Zeugnis- oder Ordensverleihung, man sieht auch keine Bankauszüge oder luxuriöse Autos, Wohnungen oder andere Statussymbolen, die einem als Belohnung winken. Und es wird gar nicht gezeigt, was passiert, wenn man sich falsch verhält, etwa eine Prüfung.
Bei gemeinsamer körperlicher Arbeit, etwa am Bau oder am Fließband, überwachen sich die Arbeitenden gegenseitig oder der Arbeitsprozess gibt den persönlichen Arbeitseinsatz vor. Industriekaufleute, Schüler, Sachbearbeiter oder Manager arbeiten mit dem Kopf – man sieht die Arbeit meist nicht. Hier muss stärker intrinsisch motiviert werden. Die Bilder aktivieren als Prosa- ober Poesiebilder das Denken und provozieren – so die Hoffnung – die innere Einstellung entsprechend provozieren.
Der Sport ist das Symbol für dieses intrinsische Moment, da er ja an sich um seiner selbst willen betrieben wird. Wer Einzelsport betreibt, weiß, was es heißt, trotz schmerzender Muskeln und Atemnot weiterzumachen. Wegen der intrinsischen Motivation werden wohl auch keine Reichtümer als Belohnungen oder Katastrophen als Strafen gezeigt: das würde dem intrinsischen Antrieb widersprechen.
Dekoration
Die Bilder sind allesamt schön. Das und die Motive dürften wie früher auch der Hauptgrund dafür sein, dass sie gekauft und aufgehängt werden (Pieske: 79). Die Bilder sollen dann vor allem die Arbeitsumgebung schöner und ansprechender machen. Das Thema und die Ermahnungen unter den Motiven sind dann als Alibi zu verstehen: Schönheit macht sich nützlich. Diese Botschaft kann sich dabei sowohl „nach innen“ wie auch an Besucher von außerhalb richten.
Kommunikation
„Als wesentliche Funktion von Bildern muß die Dokumentation im Sinne des persönlichen und gruppenspezifischen Bekenntnisses gesehen werden. Das gilt für die patriotische (politische) Gesinnung, für die politische Einstellung und ebenso für den Bildungsnachweis“ (Pieske: 57). Diese Aussage bezieht sich auf die Bilder im 19. und frühen 20. Jahrhundert und trifft so wohl auch für unsere Poster zu. Zummal es eben Poster und nicht Sticker oder kleine Bilder sind, die auf dem Schreibtisch aufgestellt werden. Das eigentliche Publikum wären dann vor allem außenstehende Besucher. Die Botschaft wäre, dass es sich hier um ein Unternehmen, eine Institution oder Familie handelt, die Wert auf schöne Einrichtung und auf positiven Arbeitsgeist legt, dass es sich um ein Unternehmen handelt, mit dem man ruhigen Gewissens zusammenarbeiten kann.
Fazit
Bilder, die heute als Erziehungsmittel eingesetzt werden, erfordern im Vergleich zu ihren Vorläufern aus der frühen Neuzeit und bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert intelligentere Nutzer. Darüber hinaus sind sie schöner als ihre Vorläufer. Beides offensichtlich Folgen der zunehmenden Bildkompetenz im Zeitalter des pictorial turn.
Literatur
Bo Bergström (2001). Bild & Budskap. Ett triangeldrama om bildkommunikation, Stockholm: Carlssons Bokförlag.
Franz Billmayer (2009). Die vielen Bilder als Herausforderung für die Bildkompetenz, in: Kunibert Bering – Rolf Niehoff (Hgg.): Bildkompetenz(en). Beiträge des Kunstunterrichts zur Bildung, Oberhausen 2009, Athena Verlag, S.81-98.
Eva Heller (neue Ausgabe 2000). Wie Farben auf Gefühl und Verstand wirken. Farbpsychologie, Farbsymbolik, Lieblingsfarben, Farbgestaltung. München: Droemer.
Christoph Hennig (1997). Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur. Frankfurt a.M. 1997.
Steven Johnson (2006). Neue Intelligenz. Warum wir durch Computerspiele und TV klüger werden. Köln, Kiepenheuer & Witsch
Katharina Lobinger (2012). Visuelle Kommunikationsforschung. Medienbilder als Herausforderung für die Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Niklas Luhmann (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Michael J. Parsons (1989). How We Understand Art. A Cognitive Development Account of Aesthetic Experience. Cambridge, University Press.
Christa Pieske (1988). Bilder für jedermann. Wandbilddrucke 1840 – 1940. Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin: Bd. 15.
Karl N. Renner (2007). Fernsehjournalismus, Konstanz: UVK.