dieser Text ist erschienen in: J. Kirschenmann & F. Schulz (Hg.), Begegnungen – Kunstpädagogische Perspektiven auf Kunst- und Bildgeschichte (S.262–269). München: kopaed-Verlag. Hier ist er um Links erweitert.
Franz Billmayer
Begrenzte Auswahl
Anmerkungen zum Fundus der Kunstgeschichte aus kunstpädagogischer Sicht
Problemorientierung
Die Problemorientierung, nicht vordergründige historische Systematik, steht im Mittelpunkt der kunstpädagogischen Auswahlstrategien, die in der gleichnamigen Sektion auf dem Doppelkongress Kunst.Geschichte.Pädagogik 2018 in Leipzig und München präsentiert und diskutiert wurden. Ausgangspunkt für die Überlegungen von Rudi Preuss und Lars Zumbansen ist die Überzeugung, dass es die Aufgabe von Kunstpädagogen ist, »den Kindern und Jugendlichen Mittel zur Dekodierung der globalen Kultur in die Hand zu geben, sodass sie selbst auf Entdeckungsreise gehen können. Um das leisten zu können, müssen wir exemplarisch arbeiten. Grundlegend hierfür ist die Vermittlung der Fähigkeit, Fragen an ein kulturelles Objekt zu stellen und Probleme zu benennen. […] Indem Problemstellungen als Auswahlkriterium für Unterrichtsgegenstände und für die verwendeten Methoden gewählt werden, können Ergebnisse transferiert werden. Die in der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Objekt exemplarisch gewonnenen Differenzerfahrungen sind die Grundlage für die Entwicklung weiterer Interessen und Fragestellungen« (Preuss/Zumbansen 2018).
Hier treffen sich die Ansätze von Rudi Preuss und Lars Zumbansen mit dem Konzept des »best selling art book of all time« der Geschichte der Kunst von Ernst Gombrich. Er erzählt darin die Geschichte der Kunst als »Problemgeschichte«. Die Probleme bestehen dabei vor allem in der Darstellung der sichtbaren Welt, aber auch in den Absichten, die mit den Werken verfolgt werden (ausführlich Demand 2010, besonders S. 25ff). Indem er die Lösung jeweils auftretender bildnerischer Probleme als Richtschnur verwendete, hielt er »sich von kunstphilosophischen Spekulationen fern, vermied die Einführung dubioser Entitäten und Agenzien (›Geist des Barocks‹, ›Renaissancemensch‹, ›Kunstwollen‹) und distanziert sich von jedweder normativer Ästhetik.« (Demand 2010, S. 41). Christian Demand erklärt sich den Erfolg dieses Buches – 16. Auflage über sieben Millionen verkaufte Exemplare in annähernd 30 Sprachen übersetzt (https://en.wikipedia.org/wiki/The_Story_of_Art) – u. a. damit, dass auch weniger kunstbegeisterte Leser mit der Idee der Problemlösung etwas anzufangen wissen. Einfach deshalb, weil das alltägliche Praxis ist. Die Problemorientierung erweist sich aus dem gleichen Grund in der schulischen Praxis als motivierend. Die Ansätze von Gombrich und von Preuss und Zumbansen leiden aber unter demselben Manko. Die Werke, die ihnen für die Erzählung bzw. den Unterricht zur Verfügung stehen, stammen aus dem Fundus der Kunstgeschichte. Der ist unter etwas anderen Prämissen zustande gekommen. Bekanntlich nimmt die Kunstgeschichtsschreibung ihren Ausgangspunkt in der Bewunderung italienischer Künstler des Cinquecento.
Künstlergeschichte
Giorgio Vasari berichtet im Schluss seiner zweiten Auflage der Viten darüber, dass er von Paolo Giovio aufgefordert worden sei, dessen »Buch ›Lobreden‹ einen Traktat hinzuzufügen, in dem von den berühmten Meistern der Zeichenkunst die Rede wäre, die von Cimabue bis in unsere Zeit gelebt hätten« (Kultermann 1966, S. 31). Der Künstler Vasari hat als Künstler für Künstler geschrieben. »Im Grunde ging es ihm um die Legitimation seines Standes. Die vorhergehende Entwicklung diente dazu, die Stellung des Künstlers in seiner Zeit, also auch die spezielle Stellung Vasaris in der Kunst des 16. Jahrhunderts zu festigen« (Kultermann 1966, S. 34). Die zweite Auflage war mit Porträts der Künstler illustriert. Vasari feierte die Künstler als außerordentliche Menschen. Diese stammten bekanntlich alle aus Italien, genauer gesagt vor allem aus der Toskana und Umbrien. Gegen diese Auswahl gab es bald Erwiderungen.
Karel van Mander etwa stellt in seinem 1604 erschienen Maler-Buch (Schilder-Boeck) in bewusster Abgrenzung zu Vasari niederländische und deutsche Künstler – also Leute aus seiner Heimat – in den Mittelpunkt. »Die Künstler des Nordens sollten denen des Südens als gleichwertig konfrontiert werden« (Kultermann 1966, S. 39). Der spanische Maler Francisco Pacheco leistete ähnliche für die spanische Kunst. Einige Zeit später folgten Autoren aus Frankreich und England diesen Beispielen und verfassen Schriften, die die Qualitäten der eigenen Künstler herausstellten.
Länder und spätere Nationen strichen in der Folge ihre jeweiligen Vorzüge gegenüber anderen Ländern durch Verweise auf ihre Künstler heraus. Dieses nationale Verständnis bestimmt bis heute die Stoffauswahl und Prüfungsstoff in vielen europäischen Ländern (Bevers 2005). Auch die Auswahl von Kunstwerken in der Schulbuchliteratur ist – zumindest im deutschen Sprachraum – von der nationalen Herkunft der Künstler bestimmt. Wenn Werke ausländischer Künstler einen Platz finden, dann befinden sich diese häufig im Besitz des jeweiligen Landes, für den das Schulbuch gedacht ist (Kirchweger 2014).
Bei Horst Bredekamp spürt man immer noch diese Bewunderung für den Künstler als besonderen Menschen. Die Künstler werden nun nicht mehr als Argumente der Überlegenheit der eigenen Nation verwendet, sondern als Belege für das Menschsein. Die Erforschung der Frühgeschichte des ›Anthropos‹ (O-Ton Bredekamp) hat »in den letzten Jahrzehnten […] atemberaubende Entdeckungen gemacht. Dazu gehört der Nachweis der bislang ältesten bekannten Bildhauerschule in der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg. […] Es handelt sich um Tiere, bei denen die künstlerische Gestaltung […] eine so beeindruckende Qualität aufweist, dass sie als Produkte – ich zitiere – ›von Kunstzentren oder Elfenbeinschnitzerschulen‹ – Zitat Ende – gedeutet wurden. Derartige aus der Kälte der Eiszeit heraus hergestellte Figuren vermögen das Bild der Frühgeschichte im Bereich der Skulptur so nachhaltig neu zu justieren, dass sich durch sie eine veritable Revision der Entwicklungsgeschichte der Menschheit abzeichnet« (Bredekamp) … So geht es weiter. Im 19. Jahrhundert galten Faustkeile »als Belege für die ursprüngliche Bestimmung des Menschen als Künstler« (Bredekamp). Kurz darauf bezeichnet Bredekamp den Hersteller einen Faustkeils Schöpfer. Homo erectus und Neandertaler verfügen über hohe intellektuelle Fähigkeiten. »Nur Menschen schlagen Steine zu.« Hier regt sich der Verdacht, in der Kunstgeschichte gehe es letztlich darum, den Menschen als Krone der Schöpfung im Sinne der Bibel zu legitimieren.
Meisterwerke, Kunsterlebnis und Moral
In der Mitte des 18. Jahrhunderts nimmt dann mit der Aufklärung und mit und in Folge von Johann Joachim Winckelmann die Entwicklung der Kunstgeschichte Fahrt auf. Neben der klassischen Antike und der Renaissance werden im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr Werke in den Fundus aufgenommen. Der Manierismus ebenso wie Barock, Rokoko oder Gotik und Romanik. Über die Aufnahme in den Fokus der Kunstgeschichte und damit der Kunstwissenschaft entscheidet letztlich das Kunsterlebnis der beteiligten Autoren und Wissenschaftler. Ein gutes Beispiel hierfür ist Goethes Begeisterung für Fassade und Turm des Straßburger Münsters und damit die damit einhergehende Anerkennung der Gotik. Letztlich entscheidet immer die Wirkung. Diese wird als evident und für allgemein gültig verstanden. Kunst ist damit immer auch ein normativer Begriff. Nur Werke die aufgrund ihrer Qualität, die entsprechende Wirkung, das Kunsterlebnis, auslösen werden als Kunstwerke akzeptiert und damit zum Gegenstand der Kunstgeschichtsschreibung.
Selbst für Gombrich steht außer Frage, dass es künstlerische Qualitäten gibt, »unabhängig von seinen eigenen subjektiven Vorlieben oder Abneigungen oder auch denen seiner Leser, daß die ästhetischen Götter […] also auch tatsächlich göttlich und damit für jedermann verehrungswürdig sind.« (Demand 2010, S. 89) Wenn es diese Qualitäten gibt, sie also nicht nur im Auge des Betrachters liegen, dann kann die Auswahl der Kunstwerke nicht an die Quote also an den (quantitativen) Erfolg gekoppelt werden, auch nicht an ihre Auswirkungen auf politische, kulturelle oder wissenschaftliche Auswirkungen. Die über Jahrhunderte unzugänglichen Aufzeichnungen Leonardos werden wichtiger genommen als gedruckte Lehrbücher über Zeichenkunst und Perspektive wie das von Jean Pélerin, genannt Viator, »De artificiali perspectiva« (dazu Schuster, Kap. 4).
Und dann kommen zu den Meisterwerken noch die moralisch pädagogischen Ideen von Friedrich Schiller. Die spielen zwar für den Fundus der Kunstgeschichtsschreibung keine zentrale Rolle, aber mit den Briefen über die ästhetischen Erziehung eine umso größere für die Kunstpädagogik. Schiller spricht sich – ganz Protestant – dagegen aus, Kunst zur Erholung oder zum Vergnügen zu nutzen . Er fordert, dass die Kunst vielmehr »zur moralischen Veredelung des Menschen« zu dienen hat (Demand 2010, S. 161ff). So ist es kein Wunder, dass Kunst in der Regel ernst, tiefgründig und bedeutungsvoll ist.
Leerstellen
Für die Kunstgeschichte gilt allgemein, was Demand für das kunsthistorische Programm von Gombrich feststellt. Es berücksichtigt »Überbietung weit mehr als Bewahrung und damit die Veränderung mehr als das Beharren, das als unproduktiver Stillstand erscheint, und das, obwohl die bewahrenden Tendenzen in aller Regel quantitativ weit größere Bedeutung haben – Historiographie wird zur Aufzeichnung des Ausnahme, sie berichtet über das Untypische. Es zeichnet zugleich vollständig motivierte Gestaltung vor unmotivierter aus, das Lebenswerk mehr als das Fragment. Es ratifiziert den Geschmack der Eliten. Es kann mehr mit Entsagung anfangen als mit ironischer Leichtigkeit, das Alberne fällt gänzlich aus der Erzählung heraus. Auch wenn es stets den Wert der Tradition bekräftigt, richtet es seine Aufmerksamkeit doch mehr auf das singuläre Werk und das singuläre Individuum. Geschichte wird so zum agonalen Raum für einzelne Heldenfiguren, die Triumphe der Überwindung feiern« (Demand 2010, S. 110f). Die Liste lässt sich erweitern. Es fehlen Beispiele für Misslungenes (Abb. 1 & 2). Hinter den Meistern und den Meisterwerken verschwindet das Alltägliche und historisch möglicherweise Wirkmächtigere. Es fehlen visuelle Phänomene wie Weihnachtskrippen, Sacri Monti (Abb. 3), Votivgaben, Exvoto-Bilder, magische Bilder z.B. Schluckbildchen (Abb. 4), Mahnbilder (Abb. 5 & 6), Spiele und Spielzeug, Öldrucke, Landkarten, Andachtsbilder, Postkarten usw.
Zusammenfassung und Diskussion
Die Kunstgeschichtsschreibung beginnt mit der Bewunderung oder besser Lobpreisung großer Künstler. Diese Idee hält sich bis heute. Wer einmal als Künstler – und damit meist als großer Künstler – anerkannt ist, dessen Werk findet insgesamt Interesse. Aus heutiger Sicht kann es nicht mehr darum gehen, gerade Maler, Bildhauer oder Architekten als besondere Vertreter der Menschheit zu feiern. Warum deren Kreativität feiern und nicht auch die von Handwerkern, Ingenieuren oder Wissenschaftlern? Es kann auch nicht darum gehen, die Gattung Mensch mit Hinweise auf Künstler als besonders zu feiern.
Die Kunstgeschichtsschreibung interessiert sich für das Meisterwerk und damit für das Besondere und Seltene. Das Normale und Alltägliche fällt durch das Selektionsraster. Zum Verständnis der Gegenwart ist es (auch) wichtig, das Normale und historisch Wirksame zu behandeln. Gerade auch an weniger gelungenen Bildern werden die Probleme sichtbar, die sich medial jeweils ergeben haben. Mit den Veränderungen, die sich heute in Folge der so genannten Digitalisierung ergeben, ist für den Schulunterricht die Erschließung der Geschichte visueller Medien wichtig geworden.
Dabei ist nicht nur auf KUNST mit Großbuchstaben zu achten, sondern auch auf Banales, Triviales, Unterhaltendes, Spielerisches und Witziges. Materialien dazu findet man etwa in der Ethnologie, der Medienwissenschaft und der Volkskunde.
Quellen
Bevers, Ton (2005): Cultural education and the canon. A comparative analysis of the content of secondary school exams for music and art in England, France, Germany, and the Netherlands, 1990–2004. Rotterdam. In: Poetics 33/2005 S. 388–416.
Bredekamp, Horst (2018): Formen und geformt werden: Ursprung und Geltung bildaktiver Prozesse. Eröffnungsvortrag zum doko18 Doppelkongress: Kunst.Geschichte.Unterricht am 15. November 2018 in der Akademie der Bildenden Künste München. (https://vimeo.com/302997971).
Demand, Christian (2010): Wie kommt die Ordnung in die Kunst? Springe.
Giesecke, Michael (2006): Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. 4. Auflage Frankfurt/M.
Kirchweger, Anna (2014): Der Kanon in der Bildnerischen Erziehung. Eine Untersuchung zum versteckten Kanon der bedeutendsten Künstlerinnen und Künstler in der Kunstpädagogik. Diplomarbeit. Universität Mozarteum Salzburg
Kultermann, Udo (1966): Geschichte der Kunstgeschichte. Wien, Düsseldorf.
Preuss, Rudi & Zumbansen, Lars (2018): Kunstgeschichte zwischen Exemplarik und Systematik (https://studienart.gko.uni-leipzig.de/doko18/sektion-iv-auswahlstrategien/ 26.3.2019)
Schuster, Uli (o.J.). Wie Bilder Schule mach(t)en. (http://www.lpg.musin.de//kusem/kure04a.htm)